Der 3. März 2012 in Münster: Die Polizei setzt einen Aufmarsch von 300 Nazis durch das Rumphorstviertel gegen den entschlossenen Protest von 7000 Menschen mit aller Härte durch. In den Mittagsstunden entdecken mehreren Polizist_innen der 17. Bereitschaftspolizeihundertschaft (BPH) aus Münster an der Stettiner Straße einen jungen Mann, den sie verdächtigen, einige Zeit zuvor eine Straftat begangen zu haben. Die Gruppe entschließt sich, den Mann vor Ort in Gewahrsam zu nehmen. In einem für sie günstigen Moment stürmen sie los, rennen ihn mit vollem Körpereinsatz um und bringen ihn brutal zu Boden. Ein Polizist schlägt dabei mehrfach auf den Demonstranten ein. Der Demonstrant verliert für einen längeren Zeitraum das Bewusstsein. Er wird vor Ort von einer Notärztin aus den Kreisen der Demonstrant_innen erstversorgt, von Rettungskräften intubiert und schließlich in die Intensivstation eingeliefert. Erst am Abend bessert sich sein Zustand, er erleidet durch den Übergriff der Polizei ein Schädel-Hirn-Trauma.
Der Übergriff auf den jungen Protestierenden war der brutalste Fall von Polizeigewalt an diesem Tag. Er war jedoch kein Einzelfall: Die Polizei setzte immer wieder Pfefferspray, Schlagstöcke und Drohungen ein, um den Nazis den Weg durch den Stadtteil gegen den entschlossenen Widerstand der Gegendemonstrant_innen freizumachen. Der 3. März 2012 war auch nicht der erste Tag, an dem wir dies erlebten: Polizeigewalt ist uns und all denen, die immer wieder auf die Straße gehen, um gegen Neonazis und soziale Ungerechtigkeiten zu protestieren, leider nur allzu gut bekannt. Wir erleben regelmäßig, mit welcher Härte die Polizei bereit ist, gegen Demonstrationen und Blockaden vorzugehen. Wir wissen, dass es die Funktion der Polizei ist, die herrschende Ordnung mit allen notwendigen Mitteln, auch mit Gewalt, aufrecht zu erhalten. Dass Polizeiübergriffe solche schweren Verletzungen verursachen wie am 3. März 2012 geschehen, ist allerdings auch für uns nicht alltäglich. Und es ist vor allem nichts, was wir einfach so hinnehmen werden!
Das „Keinen Meter“-Bündnis hat den Betroffenen im Nachgang dabei unterstützt, Strafanzeige wegen „Körperverletzung im Amt“ gegen die Polizei zu stellen. Obwohl sich viele Augenzeug_innen gemeldet hatten, stellte die Staatsanwaltschaft das Verfahren im November 2012 ein. Die Begründung: Der Polizist, der die Schläge zugegeben hat, habe aus „Notwehr“ gehandelt. Dass die Polizist_innen sich Art und Zeitpunkt der Festnahme selbst ausgesucht hatten und den Betroffenen überrumpelten, fiel für die Staatsanwaltschaft augenscheinlich nicht ins Gewicht. Die Anwältin des Betroffenen leitete daraufhin ein Klageerzwingungsverfahren beim Oberlandesgericht Hamm ein. Mit Erfolg: Das Oberlandesgericht hob die Entscheidungen der Staatsanwaltschaft auf und ordnete an, Anklage wegen Körperverletzung im Amt gegen den verdächtigen Polizisten zu erheben. Nach dieser gerichtlichen Zurechtweisung hätte jetzt eigentlich die Staatsanwaltschaft Anklage gegen den prügelnden Polizisten erheben müssen. Das tat sie aber nicht, sondern suchte in der Strafprozessordnung nach einem für den Polizisten möglichst milden Weg, das Verfahren trotzdem einzustellen. Die Staatsanwaltschaft war nun der Ansicht, der Fall weise nur eine „geringe Schwere der Schuld“ auf und stellte im Juni 2014 das Verfahren gemäß §153a der Strafprozessordnung aus Opportunitätsgründen gegen Zahlung einer Geldbuße ein. Ernsthafte Konsequenten hat der Polizist somit nicht zu fürchten, er muss lediglich 750 Euro an den Betroffenen sowie 750 Euro an einen gemeinnützigen Verein zahlen. Rechtsmittel, um gegen diese Entscheidung vorzugehen, existieren nicht.
Uns empört die Dreistigkeit, mit sich der die Staatsanwaltschaft hier über die Feststellung des Gerichtes und der Öffentlichkeit, dass hier der begründete Verdacht der „Körperverletzung im Amt“ besteht, hinwegsetzt. Dieses Vorgehen ist ein Signal an alle prügelnden Polizist_innen, dass über sie die Hand gehalten wird und dass ein Fehlverhalten keinerlei ernsthafte Konsequenzen zur Folge hat. Diese praktizierte Straffreiheit ist der Nährboden, auf dem weitere Polizeigewalt gedeiht.
Polizeigewalt in Deutschland – Kein Einzelfall, sondern ein strukturelles Problem
Bereits seit Jahren ist wissenschaftlich belegt, dass Strafverfahren gegen Polizist_innen wegen Körperverletzung im Amt eine überdurchschnittlich hohe Einstellungsquote, teilweise bis zu 95%, aufweisen. In den Verfahren, in denen die Staatsanwaltschaft von einer Strafbarkeit der Beschuldigten ausgeht, ist wiederum die Einstellungsquote aufgrund von „Geringfügigkeit“ oder aus Opportunitätsgründen außergewöhnlich hoch. Diese massive Diskrepanz im Gegensatz zu Strafverfahren mit Angeklagten, die keine Polizist_innen sind, lässt sich nicht mehr mit Schwankungen oder der besonders exponierten Rolle der Polizei in der Gesellschaft erläutern. Sie bedingt sich aus strukturellen Problemen wie der weitgehenden Anonymität von Polizist_innen in ihren Hundertschaften, einem starken Korpsgeist bei der Polizei und der aus der Praxis bedingten Nähe zwischen Ermittler_innen, Staatsanwaltschaft und den Verdächtigen. Jurist_innen, politische Gruppen und Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International fordern deshalb seit Langem strukturelle Reformen zur Bekämpfung der Ursachen von Polizeigewalt wie die Einrichtung unabhängiger Ermittlungsbehörden oder einer Kennzeichnungspflicht für Polizist_innen.
Diese Forderungen verhallen jedoch weitestgehend ungehört, stattdessen sehen wir, wie die Polizei durch neue Ausrüstung wie leistungsstarke Wasserwerfer, Überwachungsdrohnen oder Pepperballgewehre weiter militarisiert wird. Anders als es die Lobbyisten aus den Reihen der Polizeigewerkschaften immer wieder behaupten, liegt das Problem nicht in einer angeblich steigenden Aggressivität und mangelndem Respekt gegenüber Polizist_innen, sondern in der Normalität einer polizeilichen Praxis, die schwere Verletzungen billigend in Kauf nimmt. Die niedrige Verurteilungsquote bei Verfahren gegen Polizist_inen wegen Körperverletzung im Amt ist kein Beleg dafür, dass sich die Polizei grundsätzlich rechtskonform verhält. Sie zeigt vielmehr, wie gut prügelnde Polizist_innen in diesem von befangenen Polizeiermittlungen und willigen Staatsanwaltschaften getragenen System geschützt werden.
Die Einstellung des Verfahrens um den brutalen Polizeiübergriff am 3. März passt nur zu gut in dieses Muster. Wir sind wütend, dass Polizeigewalt in diesem und vielen anderen Fällen ohne Konsequenzen bleibt! Wir lassen nicht weiter zu, dass eine willige Staatsanwaltschaft prügelnde Polizist_innen schützt!
Wir rufen deshalb zu einer Demonstration unter dem Motto „Polizeigewalt muss Konsequenzen haben! Solidarität mit den Betroffenen!“ am 4. Juli 2014 um 18 Uhr in Münster (Treffpunkt am Stadthaus 1, Klemensstraße 1) auf. Wir werden unsere Wut auf die Straße tragen!